L e i t s a
t z
zum Urteil
des Zweiten Senats vom 31. Mai 2006
- 2 BvR
1673/04 -
- 2 BvR
2402/04 -
Zum
Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage für den Jugendstrafvollzug.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR
1673/04 -
- 2 BvR 2402/04 – |
Verkündet
am 31. Mai 2006 Ankelmann Amtsinspektor als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle |
Im Namen des Volkes
In den Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerden
über
die Verfassungsbeschwerden
des Herrn
R...
-
Bevollmächtigter:
Rechtsanwalt
Michael Bagnucki,
Bossestraße 12, 33615 Bielefeld -
Bossestraße 12, 33615 Bielefeld -
gegen 1.
|
den
Beschluss des Oberlandesgerichts Hamm vom 1. Juli 2004 - 1 VAs 17/04
- 2 BvR 1673/04 -, |
2.
|
den
Beschluss des Oberlandesgerichts Hamm vom 2. November 2004 - 1 VAs 58/04
- 2 BvR 2402/04 - |
hat das
Bundesverfassungsgericht - Zweiter Senat - unter Mitwirkung der Richterinnen
und Richter
Vizepräsident
Hassemer,
Broß,
Osterloh,
Di Fabio,
Mellinghoff,
Lübbe-Wolff,
Gerhardt,
Landau
Broß,
Osterloh,
Di Fabio,
Mellinghoff,
Lübbe-Wolff,
Gerhardt,
Landau
aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 1. März 2006
durch
durch
Urteil
für Recht
erkannt:
Die
Verfassungsbeschwerden werden zurückgewiesen.
Die
Bundesrepublik Deutschland hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu
erstatten.
Gründe:
A.
Die
Verfassungsbeschwerden betreffen die Frage der Zulässigkeit eingreifender
Maßnahmen im Jugendstrafvollzug, für die eine spezielle gesetzliche Grundlage
nicht besteht.
I.
Der
Beschwerdeführer verbüßt seit dem 1. Juli 2003 eine Jugendstrafe in einer
Jugendstrafanstalt im Sinne der §§ 17 Abs. 1, 92 Abs. 1 JGG. Das
Strafende ist auf den 23. August 2011 notiert.
1. Der
Verfassungsbeschwerde 2 BvR 1673/04 liegt folgender Sachverhalt zugrunde:
Im Dezember
2003 stellte der Beschwerdeführer bei der Justizvollzugsanstalt den Antrag, die
allgemeine Kontrolle seiner Post aufzuheben; zugleich wandte er sich gegen eine
Reihe von Disziplinarmaßnahmen, die die Anstalt unter anderem wegen
wiederholter tätlicher Auseinandersetzungen mit Mitgefangenen, einer Bedrohung
von Bediensteten, des Konsums von selbst hergestelltem Alkohol, unerlaubten
Besitzes einer Tätowiermaschine und mehrfacher Weigerung, Arbeitsanordnungen
Folge zu leisten, gegen ihn verhängt hatte. Die Justizvollzugsanstalt lehnte
den Antrag ab. Abgesehen von Schreiben an Verteidiger und an die in Nr. 24 Abs.
2 der Verwaltungsvorschriften zum Jugendstrafvollzug (VVJug) aufgeführten
Institutionen werde der Schriftwechsel aller Strafgefangenen in dieser
Justizvollzugsanstalt gemäß Nr. 24 Abs. 3 VVJug überwacht. Gründe, beim
Beschwerdeführer von dieser Regelung abzuweichen, seien nicht ersichtlich. Die
beanstandeten Disziplinarmaßnahmen seien sämtlich vollstreckt; der
Beschwerdeführer sei daher durch sie nicht mehr beschwert.
Der
Beschwerdeführer legte Widerspruch ein, den das Landesjustizvollzugsamt
Nordrhein-Westfalen zurückwies. Soweit der Widerspruch die Disziplinarmaßnahmen
betreffe, sei er wegen Versäumung der Wochenfrist nach § 3 Abs. 2
Vorschaltverfahrensgesetz NRW unzulässig. Die Postkontrolle sei schon
angesichts der in der Anstalt dokumentierten Auffälligkeiten des
Beschwerdeführers, die in mehreren Disziplinarverfahren ihren Niederschlag
gefunden hätten, nicht zu beanstanden. Die bundeseinheitlichen
Verwaltungsvorschriften zum Jugendstrafvollzug, die sich, soweit nicht wegen
der Besonderheiten des Jugendstrafvollzugs Abweichungen geboten seien, an den
Vorschriften des Strafvollzugsgesetzes und den hierzu ergangenen
Verwaltungsvorschriften orientierten, seien rechtmäßig und bis zum Erlass
umfassender gesetzlicher Regelungen bindend. Der Schriftwechsel werde in der
Anstalt allgemein für alle Inhaftierten überwacht, weil gerade in dem sensiblen
Bereich des Jugendvollzugs Kenntnisse aus dem sozialen Umfeld zur Erfüllung des
Erziehungsauftrages notwendig seien. In Anbetracht der vielfältigen
Disziplinarverfahren sei zudem mit weiteren Vorfällen zu rechnen, so dass die
Briefkontrolle auch aus Gründen der Sicherheit und Ordnung der Anstalt
verhältnismäßig sei.
Gegen diesen
Bescheid stellte der Beschwerdeführer Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach
§§ 23 ff. EGGVG. Die Postkontrolle sei mit Grundrechtseingriffen
verbunden, die über die bloße Freiheitsentziehung hinausgingen. Hierfür fehle
die erforderliche gesetzliche Grundlage. Der Gesetzgeber habe es bis heute
versäumt, die erforderlichen gesetzlichen Voraussetzungen in Form eines
Jugendstrafvollzugsgesetzes zu schaffen. Eine analoge Anwendung des
Strafvollzugsgesetzes auf den Jugendstrafvollzug komme nicht in Betracht.
Mit
Beschluss vom 1. Juli 2004 verwarf das Oberlandesgericht den Antrag. Soweit der
Widerspruch sich gegen die Disziplinarmaßnahmen gewandt habe, sei er zu Recht
als unzulässig verworfen worden. Hinsichtlich der Postkontrolle sei der Antrag
unbegründet. Der Anstaltsleiter sei schon aus Gründen der Erziehung gegenüber
dem Beschwerdeführer ermächtigt, den Schriftwechsel zu überwachen. Das durch
Art. 10 Abs. 1 GG geschützte Brief- und Postgeheimnis werde nicht
verletzt. Zwar fehle es an einem förmlichen Gesetz, denn das
Strafvollzugsgesetz sei nicht unmittelbar anwendbar und es liege derzeit nur
ein Gesetzesentwurf für ein Jugendstrafvollzugsgesetz vor. Die Frage der
Verfassungsmäßigkeit des jetzigen Jugendstrafvollzugs sei umstritten. Die
Oberlandesgerichte hätten aber in keinem der zu entscheidenden Fälle Maßnahmen
im Jugendstrafvollzug mangels gesetzlicher Grundlage für verfassungswidrig
befunden. Auch das Bundesverfassungsgericht habe hierüber bis heute nicht
entschieden. Zum Teil werde die Auffassung vertreten, zur Vermeidung eines
Rechtsvakuums sei für einen Übergangszeitraum die analoge Heranziehung des
Strafvollzugsgesetzes einschließlich der bestehenden Richtlinien vorzugswürdig.
Das Oberlandesgericht habe dementsprechend bereits in früheren Entscheidungen
die entsprechende Anwendung von Bestimmungen des Strafvollzugsgesetzes für
Beschränkungen im Vollzug der Jugendstrafe für zulässig erachtet.
Bis zur Schaffung
einer gesetzlichen Grundlage stelle der in § 29 StVollzG enthaltene,
in Nr. 24 VVJug verdeutlichte und mit dem Erziehungsgedanken vereinbare
Rechtsgedanke grundsätzlich eine ausreichende Ermächtigungsgrundlage für die
Postkontrolle dar. Die Überwachung des Schriftwechsels sei Ausdruck des
§ 91 JGG, der als Aufgabe des Jugendstrafvollzugs die Erziehung des
Verurteilten zu einem künftig rechtschaffenen und verantwortungsbewussten
Lebenswandel normiere. Die Postkontrolle sei im vorliegenden Fall ein geeignetes
und erforderliches Mittel zur Erfüllung des Erziehungsauftrags. In Anbetracht
der vielfältigen, durch verhängte Disziplinarmaßnahmen dokumentierten
Auffälligkeiten des Beschwerdeführers, in denen sich zeige, dass er die Regeln
des Vollzuges nicht akzeptiere, bedürfe es engmaschiger Kontrolle. Um dem
Erziehungsauftrag in der Person des Beschwerdeführers gerecht zu werden, seien
umfassende Kenntnisse aus seinem sozialen Umfeld erforderlich. Mildere Mittel -
wie Aktenstudium, Gespräche mit dem Beschwerdeführer und seiner Familie, die
nicht erzwungen werden könnten - seien nicht geeignet, diese Kenntnisse zu
erlangen. Aufgrund der vielfältigen Disziplinarverfahren gegen den
Beschwerdeführer sei zudem mit weiteren Vorfällen zu rechnen, so dass die Briefkontrolle
auch aus Gründen der Sicherheit und Ordnung in der Anstalt verhältnismäßig sei.
2. Der
Rechtsstreit, der der Verfassungsbeschwerde 2 BvR 2402/04 zugrundeliegt,
betrifft ebenfalls eine Maßnahme der Justizvollzugsanstalt. Im Mai 2004
verhängte der Anstaltsleiter gegen den Beschwerdeführer wegen maßgeblicher
Beteiligung an einer tätlichen Auseinandersetzung mit einem Mitgefangenen, dem
der Beschwerdeführer mehrmals ins Gesicht geschlagen habe, als
Disziplinarmaßnahme nach Nr. 87 Abs. 1 Ziff. 2, 3 und 4 VVJug die
Minderung des Einkaufs um 50 Prozent für einen Monat sowie den Ausschluss des
Beschwerdeführers von der Teilnahme an Gemeinschaftsveranstaltungen und den
Entzug des Fernsehens für vierzehn Tage. Den nach erfolglosem
Widerspruchsverfahren gestellten, wiederum auf das Fehlen einer ausreichenden
gesetzlichen Grundlage gestützten Antrag des Beschwerdeführers auf gerichtliche
Entscheidung nach §§ 23 ff. EGGVG verwarf das Oberlandesgericht mit
Beschluss vom 2. November 2004 unter Verweis auf den Beschluss vom 1.
Juli 2004. Die dort angeführten Gründe für die Entbehrlichkeit eines
Jugendstrafvollzugsgesetzes bei der Überwachung des Schriftwechsels seien auf
Disziplinarmaßnahmen übertragbar.
3. Im
September 2005 wurde der Beschwerdeführer in eine andere Jugendstrafanstalt
verlegt.
II.
Mit seiner
Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts vom 1. Juli
2004, gegen den er sich allein hinsichtlich der Postkontrolle wendet, macht der
Beschwerdeführer eine Verletzung seines Grundrechts aus Art. 10 Abs. 1 GG
geltend. Durch den mit der zweiten Verfassungsbeschwerde angegriffenen
Beschluss vom 2. November 2004 sieht er sich in seinen Grundrechten aus
Art. 2 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 1 GG verletzt.
Die
Maßnahmen seien nicht gerechtfertigt gewesen, weil ein Gesetz als
Ermächtigungsgrundlage fehle. Aus dem Erziehungsgedanken könne - wie von den
Amtsgerichten Rinteln und Herford in Vorlagebeschlüssen an das
Bundesverfassungsgericht vom 25. Oktober 2001 und vom 18. Februar 2002 näher
ausgeführt - eine Ermächtigungsgrundlage nicht hergeleitet werden, weil
der vom Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung zum Strafvollzug vom 14.
März 1972 (BVerfGE 33, 1) gewährte Übergangszeitraum ergebnislos abgelaufen
sei.
III.
Die
Verfassungsbeschwerden wurden dem Deutschen Bundestag, der Bundesregierung, dem
Bundesrat und allen Landesregierungen zugestellt.
Das
Bundesministerium der Justiz hat namens der Bundesregierung auf seinen im April
2004 vorgestellten Entwurf für ein Jugendstrafvollzugsgesetz verwiesen.
Die Länder und Verbände seien zwischenzeitlich beteiligt worden. Infolge der
Abkürzung der Legislaturperiode habe sich das Kabinett mit dem Gesetzentwurf
nicht mehr befasst. Das Vorhaben solle in der neuen Legislaturperiode wieder
aufgegriffen und möglichst zeitnah in das Gesetzgebungsverfahren eingebracht
werden.
Für die
Bayerische Staatsregierung hat sich das Bayerische Staatsministerium der Justiz
geäußert. Es erachtet die Verfassungsbeschwerden für - soweit zulässig -
unbegründet. Für die Maßnahmen der Justizvollzugsanstalt bestehe eine
ausreichende gesetzliche Grundlage. Der bisherige Zustand mit einigen
gesetzlichen Regelungen zum Jugendstrafvollzug in den §§ 91, 92, 114, 115
JGG, §§ 43 - 52, §§ 94 - 101, §§ 176, 178 StVollzG,
§ 23 Abs. 1 Satz 2 EGGVG und ergänzenden Verwaltungsvorschriften sei
ausreichend.
Die übrigen
Äußerungsberechtigten haben von einer Stellungnahme abgesehen.
IV.
1. In der
mündlichen Verhandlung hat der Beschwerdeführer sein schriftsätzliches
Vorbringen wiederholt.
2. Für die
Bundesregierung hat die Bundesministerin der Justiz die bisherigen Bemühungen
um ein Jugendstrafvollzugsgesetz bis hin zu dem im April 2004 vorgelegten
Entwurf dargestellt. Unter den Gründen dafür, dass diese Bemühungen bislang
nicht zum Erfolg geführt haben, sei im Laufe der Zeit immer mehr der
Gesichtspunkt der Kosten, die bei den für die Finanzierung des Vollzuges
verantwortlichen Ländern anfallen würden, in den Vordergrund getreten. Zwar sei
es unbefriedigend, dass ein Jugendstrafvollzugsgesetz aus einem Guss bislang
nicht zustandegekommen sei. Für die in der Vollzugspraxis unstreitig
notwendigen Disziplinar- und Postkontrollmaßnahmen reichten jedoch die
vorhandenen Rechtsgrundlagen im Jugendgerichtsgesetz sowie im
Strafvollzugsgesetz, dessen Regelungen entsprechend herangezogen werden
könnten, noch aus. Die ständige Rechtsprechung der Oberlandesgerichte bestätige
dies.
3. Für die
Regierung des Landes Nordrhein-Westfalen hat Leitender Ministerialrat Gröner
ausgeführt, das Land Nordrhein-Westfalen habe die Bemühungen des Bundes zur
Schaffung eines Jugendstrafvollzugsgesetzes begrüßt und im Grundsatz
unterstützt. Richtig sei allerdings, dass es in einzelnen Bereichen
Meinungsverschiedenheiten gegeben habe, besonders hinsichtlich kostenträchtiger
Vorschriften wie der Verpflichtung, eine bestimmte Quote an Ausbildungsplätzen
vorzuhalten, oder zwingender Vorgaben für Wohngruppengrößen. Eine Verständigung
auf weichere Formulierungen sei im Gange gewesen. Die tatsächliche
Ausgestaltung des Jugendstrafvollzuges in Nordrhein-Westfalen entspreche den
rechtlichen Besonderheiten. Die Personalbemessung sei deutlich günstiger als
für den Erwachsenenstrafvollzug. Auf die Sicherung der spezifischen
Qualifikation des Personals werde Wert gelegt; so würden für den Einsatz in
Jugendstrafanstalten von den Absolventen der Ausbildung für den Allgemeinen
Vollzugsdienst diejenigen mit besonders guten Leistungen in den Fächern
Psychologie, Berufspädagogik, Kriminologie und Soziale Hilfen ausgewählt. Die
Gefangenen in den Jugendstrafanstalten seien überwiegend in Wohngruppen mit bis
zu 20 oder in Vollzugsabteilungen mit bis zu 50 Gefangenen untergebracht.
Es existierten spezielle Abteilungen für besondere Gefangenengruppen wie
Gewalt- und Sexualstraftäter, Drogenabhängige und den relativ geringen Anteil
der minderjährigen Gefangenen, sowie ein breites Spektrum an
Behandlungsmaßnahmen und ein umfangreiches Angebot an schulischer und
beruflicher Ausbildung.
Besondere
Bemühungen gälten einer auch in beruflicher Hinsicht intensiveren Vorbereitung
der Entlassungsphase, unter anderem durch stärkere Zusammenarbeit mit
Außenstehenden. So hätten sich im Rahmen eines Projekts Gewerkschaften,
Arbeitgeber, Justiz, Bewährungshilfe und freie Wohlfahrtsverbände zu einem
Netzwerk zusammengeschlossen, das sich bemühe, Gefangene, die erfolgreich an
einer Berufsausbildungsmaßnahme teilgenommen haben, nach der Entlassung auf
eine Arbeitsstelle zu vermitteln, indem schon in der Endphase des
Vollzuges die Schiene zu einem bestimmten Arbeitsplatz gelegt werde. Erste
Zahlen deuteten darauf hin, dass dies eine signifikante Senkung auch der
Rückfallquoten bewirken könne. Die Konzeption für den Jugendvollzug in
Nordrhein-Westfalen zeige, dass es zur Herstellung und Entwicklung eines dem
Erziehungsauftrag verpflichteten Jugendstrafvollzuges eines Gesetzes nicht
bedürfe.
4. a) Die
sachverständigen Auskunftspersonen Prof. Dr. Frieder Dünkel, Prof. Dr.
Bernd-Rüdeger Sonnen und Dr. Joachim Walter haben übereinstimmend
hervorgehoben, dass das Jugendstrafrecht nicht eine Kleinausgabe des
Erwachsenenstrafrechts und der Jugendstrafvollzug nicht eine
"light-Variante" des Erwachsenenstrafvollzuges sei und sein dürfe;
vielmehr handele es sich um etwas grundsätzlich anderes.
b) Prof. Dr.
Dünkel hat ausgeführt, die tatsächlichen Verhältnisse im Jugendstrafvollzug
seien außerordentlich unterschiedlich. Schon die Gefangenenraten seien, bedingt
durch voneinander abweichende Handhabungen des Jugendstrafrechts, in den
Ländern verschieden hoch und entwickelten sich von Land zu Land
unterschiedlich.
So betrage
etwa die Gefangenenrate im Jugendstrafvollzug (Anzahl der inhaftierten
Jugendlichen pro 100.000 der 15- bis 25jährigen Bevölkerung, jeweils auf ganze
Zahlen gerundet) in Schleswig-Holstein 64, in Mecklenburg-Vorpommern bei
vergleichbarer Kriminalitätsstruktur dagegen mit 124 fast das Doppelte; in
Sachsen-Anhalt (162) liege sie um mehr als das Doppelte höher als in
Baden-Württemberg (71). Allein in den letzten fünf Jahren habe die
Gefangenenrate sich in einigen Ländern, wie zum Beispiel in Hamburg, um die
Hälfte erhöht, in anderen sei sie dagegen um mehr als vierzig Prozent
zurückgegangen.
Nach einer
Umfrage bei den 27 deutschen Jugendstrafanstalten, die rechtzeitigen
verwertbaren Rücklauf von 24 dieser Anstalten erbracht habe, variierten auch
die Vollzugsgestaltung und die personellen Ausstattungen erheblich. So betrage
die Belegung im offenen Vollzug zwischen null Prozent in Bremen und im Saarland
und 16 beziehungsweise 17 Prozent in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen.
Insgesamt sei der offene Jugendstrafvollzug nur zu drei Vierteln belegt; im
geschlossenen Vollzug reiche dagegen die Auslastung von 70 Prozent
in Hamburg bis zu 154 Prozent in einer sächsischen Anstalt. Die
Personalsituation sei ebenfalls sehr uneinheitlich, die Anzahl der Gefangenen,
für die jeweils ein Psychologe, und die Anzahl der Gefangenen, für die
jeweils ein Sozialarbeiter zur Verfügung steht, wichen zwischen den einzelnen
Anstalten zum Teil um ein Vielfaches voneinander ab. Auch die
Behandlungsangebote unterschieden sich. Von den 22 befragten geschlossenen
Anstalten böten 96 Prozent ein soziales Training an, 77 Prozent ein
Antiaggressivitätstraining und 36 Prozent ein Behandlungsprogramm für
Sexualstraftäter. In 55 Prozent der Anstalten bestünden kunst- und
musiktherapeutische oder vergleichbare Behandlungsprogramme.
Schulausbildungsmaßnahmen gebe es in allen 22 geschlossenen Anstalten.
Arbeitstherapeutische Angebote seien in 91 Prozent der Anstalten etabliert,
kurzfristige, das heißt auf bis zu zwölf Monate angelegte Berufsvorbereitungs-
oder Berufsausbildungsmaßnahmen ebenfalls in 91 und längerfristige in 77
Prozent der Anstalten. Die Teilnehmerzahlen seien aufgrund von
Mehrfachnennungen nicht genau angebbar. Die Zahlen deuteten darauf hin, dass
die Behandlungssituation im Jugendstrafvollzug wesentlich günstiger sei
als im Erwachsenenstrafvollzug. Zu Vollzugslockerungen und Hafturlaub zeichne
sich ab, dass diese sich auf die wenigen offenen Anstalten und Abteilungen
beschränkten, auch wenn verlässliche Zahlen noch nicht abschließend
zu ermitteln gewesen seien.
Der Anteil
der noch nicht Achtzehnjährigen liege im Jugendstrafvollzug insgesamt nur bei
etwa 10 Prozent. Bei denjenigen, die als nach Jugendstrafrecht verurteilte
Heranwachsende (§ 105 JGG) oder als während des Vollzugs der Jugendstrafe
dem Jugend- oder Heranwachsendenalter Entwachsene in Jugendstrafanstalten
inhaftiert seien, bestehe aber eine vergleichbare spezifische Problemlage. So
bestünden bei den im Jugendstrafvollzug Inhaftierten insgesamt besondere
Ausbildungsdefizite; der Anteil der Inhaftierten ohne abgeschlossene Schul- und
Berufsausbildung sei ungleich höher als im Erwachsenenstrafvollzug.
Angesichts
der erheblichen Unterschiede in der Vollzugspraxis und mit Blick auf den Stand
der empirischen Forschung zu den Erfolgen unterschiedlicher
Behandlungsprogramme und Vollzugsformen sei eine gesetzliche Regelung geboten,
die eine resozialisierungsfreundliche Ausgestaltung des Vollzuges, besonders
hinsichtlich der Schul- und Berufsausbildung, der Entlassungsvorbereitung -
einschließlich Vollzugslockerungen - und einer damit bruchlos zu verknüpfenden
Nachbetreuung, verbindlich absicherten.
c) Prof. Dr.
Sonnen hat die Einschätzung, dass eine den Besonderheiten des Jugendstrafvollzuges
entsprechende gesetzliche Regelung erforderlich sei, bestätigt. Die vorhandenen
Regelungen seien auch aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht ausreichend. Eine
entsprechende Anwendung des Strafvollzugsgesetzes scheide nicht nur angesichts
der angesprochenen besonderen Erfordernisse des Jugendstrafvollzuges, sondern
auch deshalb aus, weil es an einer planwidrigen Regelungslücke fehle. Die
gegenwärtige Ausgestaltung des Rechtsschutzes für im Jugendstrafvollzug
Inhaftierte sei ungeeignet; erforderlich seien anstelle des Rechtswegs zum
Oberlandesgericht eine niedrigschwellige Rechtsschutzmöglichkeit und ein
vorgeschaltetes mediatives Konfliktschlichtungsverfahren.
d) Der
Leiter der Jugendstrafvollzugsanstalt Adelsheim, Dr. Walter, hat ausgeführt,
die Population im Jugendstrafvollzug unterscheide sich vor allem hinsichtlich
des Alters, der Deliktsstruktur und des Ausbildungsstandes wesentlich von der
im Erwachsenenstrafvollzug. Der Anteil der im Sinne des Gesetzes jugendlichen
Insassen der Jugendstrafanstalten schwanke im Zeitverlauf, in
Baden-Württemberg zwischen zehn und zwanzig Prozent. Der weitaus größte Teil
der Gefangenen verfüge über keinerlei Schul- und Ausbildungsabschluss. Um den
Besonderheiten des Jugendalters und den damit zusammenhängenden Problemen
gerecht zu werden, seien besondere gesetzliche Regelungen erforderlich; dies
betreffe unter anderem Bildung und Ausbildung, Vorgaben für eine gesunde
körperliche und geistige Entwicklung - insbesondere Unterbringung,
Lebenshaltung, Gesundheitsfürsorge und Sport -, die Kommunikation mit der
Außenwelt, die Unterbringung im offenen Vollzug und die Gewährung von
Vollzugslockerungen, den Umgang mit Pflichtverstößen, einschließlich anderer
als disziplinarischer Maßnahmen der Konfliktregelung, die Fragen der
isolierenden Einzelhaft und des Schusswaffengebrauchs sowie eine jugendgemäße
Ausgestaltung des Rechtsschutzes, die berücksichtige, dass das Verfassen
schriftlicher Eingaben nicht der Lebenslage und oft auch nicht den Fähigkeiten
Jugendlicher entspreche. Die gesetzliche Festlegung von Mindeststandards sei
essentiell in Bezug auf Anstaltsgröße, Belegung, Unterbringung, Schul- und
Berufsausbildung, Sport, Freizeit und Personal.
B.
Die
Verfassungsbeschwerden sind zulässig.
Das
Rechtsschutzbedürfnis für die Verfassungsbeschwerden ist nicht wegen
zwischenzeitlichen Vollzugs der Disziplinarmaßnahmen, die dem Beschluss vom 2.
November 2004 zugrundelagen, oder deshalb entfallen, weil der Beschwerdeführer
inzwischen verlegt worden ist. Die Zulässigkeit eines Rechtsschutzbegehrens ist
allerdings vom Vorliegen eines schutzwürdigen Interesses abhängig. Dieses
Interesse kann jedoch in besonderen Fällen trotz Erledigung des ursprünglichen
Rechtsschutzziels fortbestehen (vgl. BVerfGE 104, 220 <232>; 110, 77
<85 f.> - stRspr).
Die
Rechtmäßigkeit der gegen den Beschwerdeführer verhängten Disziplinarmaßnahmen
kann bei zukünftigen Prognoseentscheidungen und bei der Festsetzung weiterer
Disziplinarmaßnahmen von Bedeutung sein. Die gerichtliche Bestätigung
der Rechtmäßigkeit dieser Maßnahmen ist daher geeignet, den
Beschwerdeführer weiterhin zu beeinträchtigen; zudem besteht
Wiederholungsgefahr. Dies sind Gründe für einen Fortbestand des
Rechtsschutzinteresses auch nach Erledigung des ursprünglichen Rechtsschutzziels
(vgl. BVerfGE 81, 138 <140 f.>; 103, 44 <58 f.>; 104, 220
<233>; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des
Bundesverfassungsgerichts vom 28. Februar 1994 - 2 BvR 1567/93 -, ZfStrVo
1994, S. 242 <243>).
Für die
Verfassungsbeschwerde, die sich gegen die gerichtliche Bestätigung der
Postkontrolle wendet, besteht das Rechtsschutzbedürfnis ebenfalls fort. Auch
hier ist eine Wiederholung der angegriffenen Maßnahme zu besorgen. Dabei kann
dahingestellt bleiben, ob auch in der Justizvollzugsanstalt, in die der
Beschwerdeführer verlegt worden ist, eine allgemeine Postkontrolle aller
Gefangenen praktiziert wird. Dass die Post des Beschwerdeführers auch hier
allgemein oder im Einzelfall aus Gründen der Erziehung oder der Sicherheit und
Ordnung der Anstalt überwacht werden wird, liegt angesichts der Gründe, die für
die Kontrolle seiner Post in der früheren Anstalt angeführt worden sind, nahe.
Weitere Gesichtspunkte, die im vorliegenden Fall für den Fortbestand des
Rechtsschutzinteresses sprechen, sind die Schwere des geltend gemachten
Grundrechtseingriffs (vgl. BVerfGE 81, 138 <140>; 104, 220 <232>),
die Bedeutung der Rechtsfrage, um deren Klärung es geht (vgl. BVerfGE 81,
138 <140>; 98, 169 <197 f.>), und die Umstände der
eingetretenen Erledigung. Der Beschwerdeführer wendet sich gegen einen
schwerwiegenden Eingriff in das durch Art. 10 Abs. 1 GG geschützte
Briefgeheimnis und wirft mit seiner Verfassungsbeschwerde eine
verfassungsrechtliche Frage von grundsätzlicher Bedeutung auf.
C.
Die
Verfassungsbeschwerden sind unbegründet.
Für
Maßnahmen, die in Grundrechte des Gefangenen eingreifen, ist auch im
Jugendstrafvollzug eine gesetzliche Grundlage erforderlich. Diese besteht
bislang weder für die Kontrolle der Gefangenenpost noch für die Anordnung
von Disziplinarmaßnahmen. Für eine begrenzte Übergangszeit bis
zum Inkrafttreten der erforderlichen gesetzlichen Regelungen müssen jedoch
eingreifende Maßnahmen hingenommen werden, soweit sie zur Aufrechterhaltung
eines geordneten Jugendstrafvollzuges unerlässlich sind. Nach diesem Maßstab
haben die angegriffenen Beschlüsse Bestand.
I.
1. Eingriffe
in Grundrechte bedürfen einer gesetzlichen Grundlage. Seit 1972 ist geklärt,
dass von diesem Erfordernis auch Eingriffe in die Grundrechte von
Strafgefangenen nicht ausgenommen sind (BVerfGE 33, 1 <9 f.>; vgl.
auch BVerfGE 58, 358 <367>). Grundrechtseingriffe, die über den
Freiheitsentzug als solchen hinausgehen, bedürfen danach unabhängig von den
guten oder sogar zwingenden sachlichen Gründen, die für sie sprechen mögen,
einer eigenen gesetzlichen Grundlage, die die Eingriffsvoraussetzungen in
hinreichend bestimmter Weise normiert (vgl. BVerfGE 40, 276 <283>).
Es gibt
keinen Grund, weshalb für den Jugendstrafvollzug etwas anderes gelten sollte.
Gefangene im Jugendstrafvollzug sind Grundrechtsträger wie andere Gefangene
auch. Hinsichtlich der verfassungsrechtlich gebotenen Regelungsform für
Grundrechtseingriffe besteht daher zwischen Erwachsenen-
und Jugendstrafvollzug kein Unterschied.
Die
inhaltliche Ausgestaltung des Strafvollzuges für jugendliche und ihnen in der
Entwicklung gleichstehende heranwachsende Straftäter unterliegt allerdings
besonderen verfassungsrechtlichen Anforderungen, die auch für die Reichweite
des Erfordernisses gesetzlicher Regelung im Jugendstrafvollzug von Bedeutung
sind.
2. Die zur
Sicherung einer dem entsprechenden Vollzugsgestaltung und als Grundlage der
erforderlichen Grundrechtseingriffe notwendigen gesetzlichen Grundlagen
existieren für den Jugendstrafvollzug bislang nicht.
Spezifische
gesetzliche Regelungen für den Jugendstrafvollzug finden sich nur in wenigen
Einzelvorschriften des Jugendgerichtsgesetzes und des Strafvollzugsgesetzes.
§ 91
JGG bestimmt zur Aufgabe des Jugendstrafvollzuges, den Verurteilten dazu zu
erziehen, künftig einen rechtschaffenen und verantwortungsbewussten
Lebenswandel zu führen (Abs. 1), und stellt einige allgemeine Grundsätze auf.
Befugnisse zum Eingriff in Grundrechte will und kann die Bestimmung mit diesen
Inhalten nicht vermitteln. Insbesondere folgen solche Befugnisse nicht aus
einer bloßen Aufgabenbestimmung. § 92 JGG regelt, dass die Jugendstrafe in
Jugendstrafanstalten vollzogen wird, und lässt unter bestimmten Voraussetzungen
Ausnahmen hiervon zu, die in den Anwendungsbereich der Vorschriften über den
Strafvollzug für Erwachsene verwiesen werden. § 115 JGG ermächtigt die
Bundesregierung, mit Zustimmung des Bundesrates Vorschriften über näher
bezeichnete wesentliche Elemente des Vollzugs der Jugendstrafe durch
Rechtsverordnung zu erlassen. Von der Verordnungsermächtigung, die selbst noch
keine Eingriffsgrundlage darstellt (vgl. Rzepka, in: Pollähne u.a., Wege aus
der Gesetzlosigkeit, 2004, S. 27 <33 f.>), wurde bisher kein
Gebrauch gemacht.
Das
Strafvollzugsgesetz bezieht sich nur mit wenigen Bestimmungen auf den
Jugendstrafvollzug. Nach Maßgabe des § 176 StVollzG sind Vorschriften über
das Arbeitsentgelt und nach Maßgabe des § 178 StVollzG die Regelungen
über die Anwendung unmittelbaren Zwangs auch für Gefangene in Jugendstrafanstalten
anzuwenden. Im Übrigen gilt das Strafvollzugsgesetz für den Vollzug in
Jugendstrafanstalten nicht. Dies geht besonders deutlich daraus hervor, dass
§ 178 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 4 StVollzG den Vollzug der
Jugendstrafe "außerhalb des Anwendungsbereichs des
Strafvollzugsgesetzes" ansiedelt, wird bestätigt durch die
Entstehungsgeschichte des Strafvollzugsgesetzes und entspricht allgemeiner
Auffassung (näher Bammann, RdJB 2001, S. 24 <26 f.>; Rzepka, a.a.O.,
S. 27 f.; vgl. auch Calliess/Müller-Dietz, StVollzG,
10. Aufl. 2005, § 1 Rn. 7; Böhm, in: Schwind/Böhm/Jehle,
StVollzG, 4. Aufl. 2005, § 1 Rn. 7; Arloth, in:
Arloth/Lückemann, StVollzG, 2004, § 1 Rn. 2; Lesting, in: Feest,
AK-StVollzG, 4. Aufl. 2000, § 1 Rn. 1).
Zur
Überbrückung der Übergangszeit bis zum Inkrafttreten einer außenwirksamen
rechtlichen Regelung haben die Landesjustizverwaltungen 1976 bundeseinheitliche
Verwaltungsvorschriften zum Jugendstrafvollzug (VVJuG) vereinbart, die in den
Ländern übereinstimmend 1977 in Kraft gesetzt und später auch in den neuen
Ländern übernommen wurden. Diese zwischenzeitlich mehrfach geänderten
Verwaltungsvorschriften (abgedruckt bei Eisenberg, JGG, 11. Aufl. 2006, S.
1013 ff.), die sich weitgehend an die Regelungen des Strafvollzugsgesetzes
anlehnen, enthalten unter anderem Bestimmungen zur Überwachung des
Schriftwechsels der Gefangenen (Nr. 24) und zur Verhängung von
Disziplinarmaßnahmen bei Pflichtverstößen (Nr. 86 ff.). Es liegt in
der Rechtsnatur dieser Bestimmungen, dass sie dem für Grundrechtseingriffe geltenden
Vorbehalt des Gesetzes nicht genügen.
3. Der
Mangel an gesetzlichen Grundlagen für den Jugendstrafvollzug lässt sich nicht
durch Rückgriff auf Rechtsgedanken des Strafvollzugsgesetzes beheben.
a) Einer
analogen Anwendung der Bestimmungen des Strafvollzugsgesetzes auf
Disziplinarmaßnahmen im Jugendstrafvollzug steht bereits das aus Art. 103
Abs. 2 GG folgende Analogieverbot entgegen, das nach ständiger Rechtsprechung
des Bundesverfassungsgerichts nicht nur für das Strafrecht im engeren Sinne, sondern
grundsätzlich auch für Disziplinarstrafen gilt (vgl. BVerfGE 26, 186
<203 f.>; 45, 346 <351>).
b)
Unabhängig davon ist fraglich, inwieweit außerhalb spezieller Analogieverbote,
wie sie für das materielle Straf- und Disziplinarrecht und hinsichtlich der
materiellrechtlichen Grundlagen von Freiheitsentziehungen (vgl. BVerfGE 29, 183
<195 f.>; 34, 293 <301 f.>; 83, 24 <31 f.>)
gelten, auch eine nur analog anwendbare gesetzliche Vorschrift dem Erfordernis
einer gesetzlichen Grundlage für Grundrechtseingriffe genügen kann. Diese Frage
bedarf hier keiner abschließenden Klärung. Nach dem Sinn und Zweck des
Gesetzesvorbehalts scheidet eine Schließung von Regelungslücken im Wege der
Analogie jedenfalls dann aus, wenn für eine ganze Rechtsmaterie mit vielfältigem
Grundrechtsbezug der Gesetzgeber die Entscheidung über deren Ausgestaltung
nicht getroffen und die dazu erforderlichen grundrechtsrelevanten Abwägungen
nicht vorgenommen hat. So liegt es hier. Ausreichende gesetzliche
Eingriffsgrundlagen fehlen für beinahe den gesamten Bereich des
Jugendstrafvollzuges.
c) Die
Voraussetzungen für eine analoge Gesetzesanwendung liegen auch im Übrigen nicht
vor. Die bestehende außerordentlich breite Regelungslücke ist nicht planwidrig
(vgl. H.-J. Albrecht, RdJB 2003, S. 352 <358>; Rzepka, a.a.O., S. 41).
Planwidrig ist allenfalls, dass sie trotz zahlreicher Anläufe (vgl. im
Einzelnen Bammann, RdJB 2001, S. 24 <25 ff.>; Albrecht, a.a.O., S.
355; Höflich, in: Pollähne/Bammann/Feest, a.a.O., S. 91 ff.; zum Entwurf
des Bundesministeriums der Justiz vom April 2004 J. Walter, Neue
Kriminalpolitik 2005, S. 17 f.; Laubenthal, in: DVJJ Nordbayern
<Hg.>, Entwicklungen im Jugendstrafrecht, 2005, S. 76 ff.) bis heute
nicht geschlossen wurde.
Jedenfalls
im Anwendungsbereich verfassungsrechtlicher Gesetzesvorbehalte hat der
Auslegungsgrundsatz, dass die analoge Anwendung gesetzlicher Vorschriften eine
planwidrige Regelungslücke voraussetzt (vgl. BGHZ 155, 380 <389>,
m.w.N.), verfassungsrechtliche Bedeutung. Er stellt sicher, dass nicht kraft
Richterrechts gesetzliche Vorschriften als Eingriffsgrundlage in einem Bereich
Anwendung finden, deren Anwendung in diesem Bereich der Gesetzgeber bewusst
nicht vorgesehen hat. Eben dies trifft hier zu. Der Gesetzgeber hat sich
bewusst gegen die Einbeziehung des Jugendstrafvollzuges in
den Anwendungsbereich des Strafvollzugsgesetzes entschieden.
Dies zeigt
bereits die deutliche Regelung des § 178 Abs. 1 in Verbindung
mit Abs. 4 StVollzG (vgl. Bammann, a.a.O., S. 26). Auch die Begründung zum Regierungsentwurf
des Strafvollzugsgesetzes (vom 23. Juli 1973, BTDrucks 7/918, S. 43)
ging dahin, dass der Anwendungsbereich des Gesetzes sich nicht auf den
Jugendstrafvollzug erstrecke. Nach der Entwurfsbegründung sollte allerdings
zugleich die Möglichkeit einer analogen Anwendung des Gesetzes in diesem
Bereich vorbehaltlich entgegenstehender erzieherischer Gesichtspunkte nicht
ausgeschlossen werden (a.a.O., S. 43). Auch wenn der Gesetzgeber dies in seinen
Willen aufgenommen haben sollte, konnte er damit aber die analoge Anwendbarkeit
des Strafvollzugsgesetzes nicht in verfassungskonformer Weise begründen. Denn
die Frage, inwieweit Besonderheiten, die einfachgesetzlich im
Erziehungsgedanken des Jugendgerichtsgesetzes zum Ausdruck gebracht sind, einer
Ordnung des Jugendstrafvollzuges nach den Regeln des Erwachsenenstrafvollzuges
entgegenstehen, durfte er nicht den Gerichten zur Beantwortung auf der
Grundlage von Analogieüberlegungen überlassen, sondern musste sie selbst
beantworten.
Angesichts
der dargestellten Besonderheiten fehlt es auch an der für eine
analoge Gesetzesanwendung erforderlichen Gleichartigkeit der zu regelnden
Sachverhalte. Erwachsenen- und Jugendstrafvollzug haben es im Gegenteil mit so
unterschiedlichen Sachverhalten zu tun, dass das Strafvollzugsgesetz in seiner
geltenden Fassung den verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine gesetzliche
Regelung des Jugendstrafvollzuges auch dann nicht entspräche, wenn seine
Anwendung für den Jugendstrafvollzug ausdrücklich vorgesehen wäre. Für den
Jugendstrafvollzug bedarf es gesetzlicher Grundlagen, die auf die besonderen
Anforderungen des Vollzuges von Strafen an Jugendlichen und ihnen
gleichstehenden Heranwachsenden zugeschnitten sind.
4. a) Die
Ausgangsbedingungen und Folgen strafrechtlicher Zurechnung sind bei
Jugendlichen in wesentlichen Hinsichten andere als bei Erwachsenen (vgl.
Böhm/Feuerhelm, Einführung in das Jugendstrafrecht, 4. Aufl. 2004,
§§ 1 - 4; Schaffstein/Beulke, Jugendstrafrecht, 14. Aufl. 2002,
§ 1; Eisenberg, JGG, 11. Aufl. 2006, Einl. Rn. 5, jew. m.w.N.).
Jugendliche befinden sich biologisch, psychisch und sozial in einem Stadium des
Übergangs, das typischerweise mit Spannungen, Unsicherheiten und
Anpassungsschwierigkeiten, häufig auch in der Aneignung von Verhaltensnormen,
verbunden ist. Zudem steht der Jugendliche noch in einem Alter, in dem nicht
nur er selbst, sondern auch andere für seine Entwicklung verantwortlich sind.
Die Fehlentwicklung, die sich in gravierenden Straftaten eines Jugendlichen
äußert, steht in besonders dichtem und oft auch besonders offensichtlichem
Zusammenhang mit einem Umfeld und Umständen, die ihn geprägt haben. Für das
Jugendstrafrecht und den Jugendstrafvollzug gewinnt daher der Grundsatz, dass
Strafe nur als letztes Mittel (vgl. BVerfGE 90, 145 <201>) und nur
als ein in seinen negativen Auswirkungen auf die Persönlichkeit des Betroffenen
nach Möglichkeit zu minimierendes Übel (vgl. BVerfGE 45, 187 <238>; 64,
261 <272 f.>) verhängt und vollzogen werden darf, eine besondere
Bedeutung.
b) Der
Vollzug der Freiheitsstrafe muss auf das Ziel ausgerichtet sein, dem
Inhaftierten ein künftiges straffreies Leben in Freiheit zu ermöglichen (vgl.
BVerfGE 35, 202 <235 f.>; 36, 174 <188>; 45, 187
<238 f.>; 64, 261 <276>; 74, 102 <122 f.>; 98, 169
<200 f.>). Dieses – oft auch als Resozialisierungsziel bezeichnete –
Vollzugsziel der sozialen Integration (vgl. BVerfGE 64, 261 <276>),
für den Erwachsenenstrafvollzug einfachgesetzlich in § 2 Satz 1 StVollzG
festgeschrieben, ist im geltenden Jugendstrafrecht als Erziehungsziel verankert
(§ 91 Abs. 1 JGG). Der Verfassungsrang dieses Vollzugsziels beruht
einerseits darauf, dass nur ein auf soziale Integration ausgerichteter
Strafvollzug der Pflicht zur Achtung der Menschenwürde jedes Einzelnen (vgl.
BVerfGE 35, 202 <235 f.>; 45, 187 <238>) und dem Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit staatlichen Strafens (vgl. BVerfGE 88, 203 <258>)
entspricht. Mit dem aus Art. 1 Abs. 1 GG folgenden Gebot, den
Menschen nie als bloßes Mittel zu gesellschaftlichen Zwecken, sondern
stets auch selbst als Zweck - als Subjekt mit eigenen Rechten und zu
berücksichtigenden eigenen Belangen - zu behandeln (vgl. BVerfGE 109, 133
<150 f.>), und mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist die
Freiheitsstrafe als besonders tiefgreifender Grundrechtseingriff nur vereinbar,
wenn sie unter Berücksichtigung ihrer gesellschaftlichen Schutzfunktion
konsequent auf eine straffreie Zukunft des Betroffenen gerichtet ist. Zugleich
folgt die Notwendigkeit, den Strafvollzug am Ziel der Resozialisierung
auszurichten, auch aus der staatlichen Schutzpflicht für die Sicherheit aller
Bürger. Zwischen dem Integrationsziel des Vollzugs und dem Anliegen, die
Allgemeinheit vor weiteren Straftaten zu schützen, besteht insoweit kein
Gegensatz.
Für den
Jugendstrafvollzug hat das Ziel der Befähigung zu einem straffreien Leben in
Freiheit besonders hohes Gewicht.
Dies ergibt
sich schon daraus, dass die Verpflichtung des Staates, negative
Auswirkungen des Strafübels auf die Lebenstüchtigkeit des Gefangenen
weitestmöglich zu mindern, hier besonders ausgeprägt ist. Auf den Jugendlichen
wirkt die Freiheitsstrafe in einer Lebensphase ein, die auch bei nicht
delinquentem Verlauf noch der Entwicklung zu einer Persönlichkeit dient, die in
der Lage ist, ein rechtschaffenes Leben in voller Selbständigkeit zu führen.
Indem der Staat in diese Lebensphase durch Entzug der Freiheit eingreift,
übernimmt er für die weitere Entwicklung des Betroffenen eine besondere
Verantwortung. Dieser gesteigerten Verantwortung kann er nur durch eine
Vollzugsgestaltung gerecht werden, die in besonderer Weise auf Förderung - vor
allem auf soziales Lernen sowie die Ausbildung von Fähigkeiten und Kenntnissen,
die einer künftigen beruflichen Integration dienen - gerichtet ist. Hinzu
kommt, dass beim jugendlichen Straftäter die Lebensspanne nach Verbüßung der
Haft typischerweise besonders lang ist. Er wird in verhältnismäßig jungen
Jahren – in einem statistisch betrachtet immer noch vergleichsweise hoch
kriminalitätsanfälligen Alter - wieder in die Freiheit entlassen. Erfolgreiche
Wiedereingliederung ist deshalb sowohl im Hinblick auf das weitere Leben des
Betroffenen als auch im Hinblick auf den Schutz der Allgemeinheit vor weiteren
Straftaten von besonders großer Bedeutung.
c)
Freiheitsstrafen wirken sich für Jugendliche in besonders einschneidender Weise
aus. Das Zeitempfinden Jugendlicher ist anders als dasjenige Älterer.
Typischerweise leiden sie stärker unter der Trennung von ihrem gewohnten
sozialen Umfeld und unter erzwungenem Alleinsein. In ihrer Persönlichkeit sind
Jugendliche weniger verfestigt als Erwachsene, ihre Entwicklungsmöglichkeiten
sind offener. Aus alldem ergeben sich spezielle Bedürfnisse, besondere Chancen
und Gefahren für die weitere Entwicklung und eine besondere
Haftempfindlichkeit, vor allem auch eine spezifische Empfindlichkeit
für mögliche schädliche Auswirkungen des Strafvollzugs (vgl.
Schaffstein/Beulke, a.a.O., S. 6; Eisenberg, a.a.O., Einl. Rn. 5; J.
Walter, ZJJ 2003, S. 397).
Die
Bedeutung der Familienbeziehungen und der Möglichkeit, sie auch aus der Haft
heraus zu pflegen (vgl. BVerfGE 89, 315 <322>), ist für Gefangene im
Jugendstrafvollzug altersbedingt besonders groß. Bei der Gruppe der im
Rechtssinne jugendlichen Gefangenen sind zudem grundrechtlich geschützte
Positionen der erziehungsberechtigten Eltern berührt (vgl. BVerfGE 107, 104
<119>; Kremer, Der Einfluss des Elternrechts aus Art. 6
Abs. II, III GG auf die Rechtmäßigkeit der Maßnahmen des JGG, 1984, S.
136 f.; M. Walter/Neubacher, ZfJ 2003, S. 1 <5>; Böhm, RdJB 1970, S.
250 <252>).
5. Ein der
Achtung der Menschenwürde und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
staatlichen Strafens verpflichteter Strafvollzug muss diesen Besonderheiten,
die jedenfalls bei einem noch jugendhaften Entwicklungsstand größtenteils auch
auf Heranwachsende zutreffen, Rechnung tragen.
a) Das
Erfordernis gesetzlicher Grundlagen, die den Besonderheiten des
Jugendstrafvollzuges angepasst sind, bezieht sich dabei einerseits auf die über
den Freiheitsentzug als solchen hinausgehenden Grundrechtseingriffe.
Offensichtlich ist hier etwa ein im Hinblick auf physische und psychische
Besonderheiten des Jugendalters spezieller Regelungsbedarf in Bezug auf
Kontakte, körperliche Bewegung und die Art der Sanktionierung von
Pflichtverstößen. So müssen etwa die Besuchsmöglichkeiten für familiäre
Kontakte - auch im Hinblick auf Art. 6 Abs. 2 GG - um ein Mehrfaches über
denen im Erwachsenenstrafvollzug (vgl. § 24 Abs. 1 Satz 2 StVollzG)
angesetzt werden. Erforderlich sind des weiteren gesetzliche Vorkehrungen
dafür, dass innerhalb der Anstalt einerseits Kontakte, die positivem sozialen
Lernen dienen können, aufgebaut und nicht unnötig beschränkt werden,
andererseits aber die Gefangenen vor wechselseitigen Übergriffen geschützt
sind. Nach derzeitigem Erkenntnisstand ist dazu die Unterbringung in kleineren
Wohngruppen, differenziert nach Alter, Strafzeit und Straftaten - etwa
gesonderte Unterbringung von Gewalt- und Sexualtätern mit spezifischen
Betreuungsmöglichkeiten - besonders geeignet.
Die
sachverständigen Auskunftspersonen haben in der mündlichen Verhandlung
zutreffend besonderen Regelungsbedarf auch für die Ausgestaltung des
gerichtlichen Rechtsschutzes gesehen (vgl. auch Böhm, Strafvollzug, 3. Aufl.
2003, Rn. 442). Dessen gegenwärtige Ausgestaltung – der Rechtsweg zum
Oberlandesgericht nach §§ 23 ff. EGGVG - genügt den Anforderungen
eines effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) nicht. Die elementare
Regel, dass der Rechtsstaat auch die Rechte derjenigen nicht verletzen darf,
die das Recht gebrochen haben, erfordert eine Ausgestaltung des Rechtsschutzes,
die die Wirksamkeit dieser Regel auch für den Strafvollzug sicherstellt. Die
gesetzliche Ausgestaltung des Rechtsschutzes darf auch hier den Zugang zum
Gericht nicht in unverhältnismäßiger, durch Sachgründe nicht gerechtfertigter
Weise erschweren (vgl. BVerfGE 10, 264 <267>; 88, 118 <124>,
m.w.N.) und muss daher auf die typische Situation und die davon abhängigen
Möglichkeiten der Rechtsschutzsuchenden Rücksicht nehmen. Gefangene befinden
sich in einem Rechtsverhältnis mit besonderen Gefährdungen, in dem sie auch in
der Möglichkeit, sich der Hilfe Dritter zu bedienen, eng beschränkt sind. Die
im Jugendstrafvollzug Inhaftierten sind zudem typischerweise besonders ungeübt
im Umgang mit Institutionen und Schriftsprache; zu geeignetem schriftlichen
Ausdruck sind sie häufig überhaupt nicht fähig. Ihre Verweisung auf ein
regelmäßig ortsfernes, erst- und letztinstanzlich entscheidendes Obergericht,
ohne besondere Vorkehrungen für die Möglichkeit mündlicher Kommunikation, wird
dem - auch im Vergleich mit den für Gefangene im Erwachsenenstrafvollzug
vorgesehenen Rechtsschutzmöglichkeiten - nicht gerecht (vgl. auch Eisenberg,
a.a.O., Rn. 40 f. zu § 91 JGG; Butz, Die Verhängung von Jugendstrafe
vor dem Hintergrund der Verfassungswidrigkeit des Jugendstrafvollzuges, 2004,
S. 40; Böhm, in: Trenczek, Freiheitsentzug bei jungen Straffälligen, 1993, S.
197 <201>; Dünkel, Freiheitsentzug für junge Rechtsbrecher, 1990, S.
139).
b) Das
Erfordernis gesetzlicher Regelung betrifft über den Bereich der
unmittelbar eingreifenden Maßnahmen hinaus auch die Ausrichtung des Vollzuges
auf das Ziel der sozialen Integration (vgl. Butz, a.a.O., S. 41 ff.; s.
auch M. Walter/Neubacher, ZfJ 2003, S. 1 <5 f.>; Böhm/Feuerhelm,
Einführung in das Jugendstrafrecht, 4. Aufl. 2004, S. 250 f.). Der
Gesetzgeber selbst ist verpflichtet, ein wirksames Resozialisierungskonzept zu
entwickeln und den Strafvollzug darauf aufzubauen (vgl. BVerfGE 98, 169
<201>).
Für die
Ausgestaltung dieses Konzepts hat er, nicht zuletzt im Hinblick darauf, dass
gesichertes Wissen über die Wirksamkeit und das Verhältnis von Aufwand und
Erfolg unterschiedlicher Vollzugsgestaltungen und Behandlungsmaßnahmen
nur begrenzt verfügbar ist, einen weiten Spielraum (vgl. BVerfG, a.a.O.; zur
Bedeutung verfügbaren Wissens BVerfGE 99, 367 <389 f.>). Auch
bezogen auf den Jugendstrafvollzug ist er nicht auf eine im Einzelnen
bestimmte Vollzugsgestaltung verfassungsrechtlich festgelegt.
Aus dem
besonderen verfassungsrechtlichen Gewicht, das dem Ziel der Vorbereitung
auf eine künftige straffreie Lebensführung im Jugendstrafvollzug zukommt,
erwachsen dem Staat jedoch auch besondere positive Verpflichtungen. So hat er
durch gesetzliche Festlegung hinreichend konkretisierter Vorgaben Sorge dafür zu
tragen, dass für allgemein als erfolgsnotwendig anerkannte Vollzugsbedingungen
und Maßnahmen die erforderliche Ausstattung mit den personellen und
finanziellen Mitteln kontinuierlich gesichert ist. Der Staat muss den
Strafvollzug so ausstatten, wie es zur Realisierung des Vollzugsziels
erforderlich ist (BVerfGE 35, 202 <235>). Dies betrifft insbesondere die
Bereitstellung ausreichender Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten, Formen der
Unterbringung und Betreuung, die soziales Lernen in Gemeinschaft, aber auch den
Schutz der Inhaftierten vor wechselseitiger Gewalt ermöglichen (zur Gefährdung
unter anderem des zuletzt genannten Ziels durch Überbelegung J. Walter, in:
Pollähne/Bammann/Feest, a.a.O., S. 1 <5 f.>), ausreichende
pädagogische und therapeutische Betreuung sowie eine mit angemessenen Hilfen
für die Phase nach der Entlassung (vgl. BVerfGE 35, 202 <236>) verzahnte
Entlassungsvorbereitung. Bei den schulischen und beruflichen
Ausbildungsangeboten ist darauf Bedacht zu nehmen, dass solche Angebote auch
dann sinnvoll genutzt werden können, wenn wegen der Kürze der Haftzeit ein
Abschluss während der Dauer der Haft nicht erreichbar ist.
c) Die
gesetzlichen Vorgaben für die Ausgestaltung des Vollzuges müssen zudem auf
sorgfältig ermittelten Annahmen und Prognosen über die Wirksamkeit
unterschiedlicher Vollzugsgestaltungen und Behandlungsmaßnahmen beruhen (vgl.
BVerfGE 106, 62 <152>). Der Gesetzgeber muss vorhandene
Erkenntnisquellen, zu denen auch das in der Vollzugspraxis verfügbare
Erfahrungswissen gehört, ausschöpfen (vgl. BVerfGE 50, 290 <334>) und
sich am Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse orientieren (vgl. BVerfGE 98,
169 <201>).
Auf eine den
grundrechtlichen Anforderungen nicht genügende Berücksichtigung vorhandener
Erkenntnisse oder auf eine den grundrechtlichen Anforderungen nicht
entsprechende Gewichtung der Belange der Inhaftierten kann es hindeuten, wenn
völkerrechtliche Vorgaben oder internationale Standards mit
Menschenrechtsbezug, wie sie in den im Rahmen der Vereinten Nationen oder von
Organen des Europarates beschlossenen einschlägigen Richtlinien und
Empfehlungen enthalten sind (vgl. Höynck/Neubacher/Schüler-Springorum,
Internationale Menschenrechtsstandards und das Jugendkriminalrecht. Dokumente
der Vereinten Nationen und des Europarates, hg. vom Bundesministerium der
Justiz in Zusammenarbeit mit der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und
Jugendgerichtshilfen e.V., 2001; Empfehlungen des Europarates zum
Freiheitsentzug 1962 - 2003, hg. vom Bundesministerium der Justiz,
Berlin, Bundesministerium für Justiz, Wien, und Eidgenössischen Justiz- und
Polizeidepartement, Bern, 2004), nicht beachtet beziehungsweise unterschritten
werden (vgl. auch Schweizerisches Bundesgericht, Urteil vom 12. Februar 1992,
BGE 118 Ia 64 <70>).
d) Die
Verpflichtung, der gesetzlichen Ausgestaltung des Vollzuges möglichst
realitätsgerechte Annahmen und Prognosen zugrundezulegen, wirkt auch in die
Zukunft. Mit Rücksicht auf das besonders hohe Gewicht der grundrechtlichen
Belange, die durch den Jugendstrafvollzug berührt werden, ist der Gesetzgeber
zur Beobachtung und nach Maßgabe der Beobachtungsergebnisse zur Nachbesserung
verpflichtet (vgl. BVerfGE 88, 203 <310>). Der Gesetzgeber muss daher
sich selbst und den mit der Anwendung der gesetzlichen Bestimmungen
befassten Behörden die Möglichkeit sichern, aus Erfahrungen mit der jeweiligen
gesetzlichen Ausgestaltung des Vollzuges und der Art und Weise, in der die
gesetzlichen Vorgaben angewendet werden, und dem Vergleich mit
entsprechenden Erfahrungen außerhalb des eigenen räumlichen Kompetenzbereichs
zu lernen. In diesem Zusammenhang liegt vor allem die Erhebung aussagefähiger,
auf Vergleichbarkeit angelegter Daten nahe, die bis hinunter auf die Ebene der
einzelnen Anstalten eine Feststellung und Bewertung der Erfolge und Misserfolge
des Vollzuges – insbesondere der Rückfallhäufigkeiten – sowie die gezielte
Erforschung der hierfür verantwortlichen Faktoren ermöglichen. Solche Daten
dienen wissenschaftlicher und politischer Erkenntnisgewinnung sowie einer öffentlichen
Diskussion, die die Suche nach besten Lösungen anspornt und demokratische
Verantwortung geltend zu machen erlaubt.
6. Die
verfassungsrechtliche Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung für den
Jugendstrafvollzug, von der auch die ganz herrschende Auffassung in der
Literatur ausgeht (vgl. aus jüngerer Zeit nur Eisenberg, JGG, 11. Aufl.
2006, § 91 Rn. 5; Laubenthal, in: DVJJ Nordbayern <Hg.>,
Entwicklungen im Jugendstrafrecht, 2005, S. 65 ff.; Butz, Die
Verhängung von Jugendstrafe vor dem Hintergrund der Verfassungswidrigkeit
des Jugendstrafvollzuges, 2004, S. 17 ff., 41 ff.; Pollähne, ZJJ
2005, S. 79 ff.; J. Walter, in: Pollähne/Bammann/Feest, S. 3
<16>; Rzepka, ebd., S. 27 ff.; Wölfl, ebd., S. 77 ff.; Bammann,
ebd., S. 101 ff.; H.-J. Albrecht, RdJB 2003, S. 352
<356 f.>; Deutsche Vereinigung für Jugendgerichte und
Jugendgerichtshilfen, Abschlussbericht der 2.
Jugendstrafrechtsreform-Kommission, DVJJ-Journal Extra 2002, Nr. 5,
S. 88 f.; Binder, StV 2002, S. 452 ff.; Mertin, ZRP 2002,
S. 18 ff.; Ostendorf, DVJJ-Journal 2001, S. 427 <430 f.>,
mit zahlreichen weiteren Nachweisen; ebenso hinsichtlich der Festlegung eines
Erziehungskonzepts M. Walter/Neubacher, ZfJ 2003, S. 1 <4 ff.>;
Böhm/Feuerhelm, Einführung in das Jugendstrafrecht, 4. Aufl. 2004, S.
250 f.), wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass die angegriffenen
Entscheidungen sich auf vorausgegangene Rechtsprechung der Oberlandesgerichte
stützen konnten, die eingreifende Maßnahmen im Jugendstrafvollzug ebenfalls
trotz des Fehlens spezieller gesetzlicher Grundlagen als rechtmäßig bestätigt
haben (vgl. nur OLG Koblenz ZfStrVo 1980, S. 61 <62>; OLG Stuttgart,
ZfStrVo 1980, S. 60 <61>; OLG Hamm, ZfStrVo 1985, S. 128 und ZfStrVo
1986, 120 <121>; OLG Celle, NStZ 2000, S. 167; OLG Zweibrücken, ZfStrVo 2003,
S. 250; OLG Jena, ZfStrVo 2003, S. 242).
II.
Ungeachtet
des Fehlens der erforderlichen gesetzlichen Grundlagen für die Maßnahmen, die
Gegenstand der angegriffenen Entscheidungen waren, haben die
Verfassungsbeschwerden im Ergebnis keinen Erfolg.
1. a)
Grundsätzlich hat die Feststellung, dass eine in Grundrechte eingreifende
Maßnahme der verfassungsrechtlich erforderlichen gesetzlichen Grundlage
entbehrt, die Aufhebung der eine solche Maßnahme bestätigenden gerichtlichen
Entscheidungen zur Folge (§ 95 Abs. 2 BVerfGG; vgl. BVerfGE 41, 251
<266>; 51, 268 <287>). Ausnahmsweise hat das
Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber jedoch für die Schaffung der
erforderlichen Regelungen eine Übergangsfrist einzuräumen, während deren solche
Maßnahmen ungeachtet des Fehlens einer gesetzlichen Grundlage hinzunehmen sind,
wenn und soweit nur so ein Zustand – beispielsweise ein Zustand der
Funktionsunfähigkeit staatlicher Einrichtungen - vermieden werden kann, der der
verfassungsmäßigen Ordnung noch ferner stünde als die vorübergehende
Hinnahme materiell rechtfertigungsfähiger, gesetzlich aber nicht ausreichend
legitimierter Eingriffe (vgl. BVerfGE 33, 303 <347 f.>; 41, 251
<266>; 51, 268 <287 f.>; 58, 257 <280>; 61, 319 <356>;
73, 280 <297>; 76, 171 <189>; 111, 191 <224>).
b) Die
Voraussetzungen für eine vorübergehende Aussetzung der regulären Rechtsfolgen
des Fehlens verfassungsrechtlich notwendiger gesetzlicher Vorschriften liegen
hier vor. Die Aufrechterhaltung und verfassungskonforme Durchführung des
Jugendstrafvollzugs ist ohne Eingriffsbefugnisse nicht möglich. Der
Verfassungspflicht zum Beispiel, die Inhaftierten und das eigene Personal vor
Übergriffen (Mit)Gefangener zu schützen, können die Anstalten nicht ohne eigene
Eingriffsbefugnisse genügen. Schon um zu verhindern, dass Gefangene sich der
Freiheitsentziehung ihrerseits entziehen, sind solche Befugnisse unabdingbar.
Die
grundsätzliche Anerkennung dieser Notwendigkeit bedeutet allerdings nicht, dass
übergangsweise die bisherigen unzureichenden Regelungen ohne weiteres so
anwendbar blieben, als seien sie verfassungsrechtlich unbedenklich (BVerfGE 58,
257 <280 f.>; 41, 251 <266>; 33, 1 <13>). Bis zur
Herstellung eines verfassungsmäßigen Zustandes durch den Gesetzgeber reduzieren
sich vielmehr die Befugnisse der Behörden und Gerichte zu Eingriffen in
verfassungsrechtlich geschützte Positionen auf das, was zur Aufrechterhaltung
eines ansonsten verfassungsgemäß geordneten Vollzuges unerlässlich ist (vgl.
BVerfGE 40, 276 <283>; 41, 251 <266>; 58, 257 <280 f.>;
76, 171 <189>; 77, 125 <129>). Bis zu diesem Zeitpunkt ist zur
Vermeidung von Rechtsunsicherheit gerichtlicher Rechtsschutz weiterhin nach
Maßgabe der §§ 23 ff. EGGVG zu gewähren.
c) Die
Übergangsfrist endet mit Ablauf des Jahres 2007.
2. Nach diesen
Maßstäben haben die angegriffenen Entscheidungen Bestand.
a) Die
Möglichkeit, auf Pflichtverstöße der Gefangenen mit disziplinarischen Maßnahmen
zu antworten, ist für die Aufrechterhaltung eines geordneten, zur Erfüllung
seiner verfassungsrechtlichen Aufgaben fähigen Vollzuges unerlässlich. Zwar
sollte im Strafvollzug, und besonders im Jugendstrafvollzug, nach Möglichkeit
eine positiv motivierende Einwirkung auf die Gefangenen im Vordergrund stehen
(vgl. J. Walter, ZJJ 2003, S. 397 <399>). Unbeschadet dessen bedürfen die
für einen geordneten Betrieb notwendigen Verhaltensregeln aber auch der
Flankierung durch Sanktionen, die die Anstalt selbst verhängen kann.
Dies zeigt
gerade der vorliegende Fall. Mit dem angegriffenen Beschluss vom 2. November 2004
hat das Oberlandesgericht Disziplinarmaßnahmen als rechtmäßig bestätigt, die
gegen den Beschwerdeführer wegen körperlichen Angriffs auf einen Mitgefangenen
verhängt worden waren. Dürften Gefangene damit rechnen, dass in derartigen
Fällen die angemessene Reaktion mangels gesetzlicher Grundlagen ausbleibt,
wären Mitgefangene und andere potentiell Betroffene vor solchen Angriffen
nicht in der grundrechtlich gebotenen Weise geschützt. Besondere Umstände,
deretwegen nichtsdestoweniger im konkreten Fall von einer disziplinarischen
Antwort hätte abgesehen werden müssen, waren weder dargelegt noch ersichtlich.
b) Auch die
Verfassungsbeschwerde gegen die angegriffene Entscheidung des
Oberlandesgerichts vom 1. Juli 2004, mit der die Anordnung der allgemeinen Postkontrolle
bestätigt wurde, hat keinen Erfolg.
Der Eingriff
in das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art. 10 Abs. 1 GG kann
allerdings nicht mit den vom Oberlandesgericht angeführten Gründen der
Erziehung gerechtfertigt werden. Es ist bereits fraglich, ob und gegebenenfalls
unter welchen Voraussetzungen die Kontrolle des gesamten Briefwechsels eines
jungen Gefangenen mit dem Ziel, umfassende Kenntnisse über sein soziales Umfeld
zu erlangen, überhaupt ein geeignetes Mittel der Erziehung zur Rechtschaffenheit
sein kann. An der Unerlässlichkeit in dem hier zugrundezulegenden strengen
Sinne, dass anderenfalls ein noch weniger verfassungsgemäßer Zustand als der
der Gesetzlosigkeit des Eingriffs droht, fehlt es jedenfalls, solange der
erzieherisch motivierten Kontrolle keine ernsthaften Bemühungen vorausgegangen
sind, die für notwendig gehaltenen Erkenntnisse über das soziale Umfeld auf
weniger eingreifende Weise zu gewinnen. Die abstrakte Feststellung des
Oberlandesgerichts, mildere Mittel wie Aktenstudium oder Gespräche mit dem
Beschwerdeführer und seiner Familie, die nicht erzwungen werden könnten, seien
ungeeignet, genügt den Anforderungen an die Prüfung der Unerlässlichkeit (vgl.
BVerfGE 41, 251 <267>) nicht.
Das
Oberlandesgericht hat die Rechtmäßigkeit der gegen den Beschwerdeführer
angeordneten Postkontrolle jedoch zusätzlich mit dem Gesichtspunkt der
Sicherheit und Ordnung der Anstalt begründet, der die Überwachung erforderlich
mache, weil angesichts der vielfältigen Disziplinarverfahren mit weiteren
Vorfällen gerechnet werden müsse. Hiergegen sind verfassungsrechtliche Einwände
auch nach dem anzulegenden strengen Maßstab nicht zu erheben. Die Überwachung
des Schriftwechsels eines Gefangenen ist unerlässlich und daher übergangsweise
auch ohne gesetzliche Grundlage zulässig, soweit sie erforderlich ist, um
Gefahren für einen geordneten Vollzug wie Fluchtplanungen oder der Vorbereitung
von Straftaten entgegenzutreten (vgl. BVerfGE 33, 1 <14>). Mit den
zahlreichen - nicht nur Affekthandlungen, sondern auch ihrer Natur nach
planmäßige Pflichtverstöße betreffenden - disziplinarischen Auffälligkeiten,
auf die das Oberlandesgericht verwiesen hat, ist diese Gefahr bei der hier
gegebenen Ausgangslage noch ausreichend belegt.
3. Die
Erstattung der Auslagen wird gemäß § 34a Abs. 3 BVerfGG angeordnet, weil
die Verfassungsbeschwerden zur Klärung einer Frage von grundsätzlicher
Bedeutung geführt haben und diese Frage im Sinne des Beschwerdevortrags zu
beantworten war (vgl. BVerfGE 109, 190 <243 f.>). Da die Klärungsbedürftigkeit
dieser Frage in erster Line durch den Bund veranlasst worden ist und die
Überprüfung der Entscheidungen des Oberlandesgerichts keinen Grundrechtsverstoß
ergeben hat, wird die Erstattung der Auslagen der Bundesrepublik Deutschland
auferlegt.
Hassemer
|
Broß
|
Osterloh
|
Di Fabio
|
Mellinghoff
|
Lübbe-Wolff
|
Gerhardt
|
Landau
|
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